Tilmann Zahn
Melancholie als Sehnsucht nach Erkenntnis
Für Tilmann Zahn ist die Farbe ein starker Bedeutungsträger und zentraler Aspekt der künstlerischen Komposition. Gleichzeitig ist die Farbigkeit seiner Arbeiten nicht das Ergebnis eines klassischen Malaktes, sondern das Resultat eines Vorgangs, der sich vom Künstler nicht in allen Einzelheiten steuern lässt: Büttenpapier wird in Ölfarbe getränkt, bis es vollständig von ihr durchdrungen ist. Die Eigendynamik dieses Prozesses hinterlässt eine Färbung, in der die Tiefe des Farbtons variiert und fleckige Spritzer zurückbleiben.
Tilmann Zahn zeichnet feine Linien auf das Papier, und es bildet sich ein Lineament aus Bleistift und Graphit als Spur eines Aktes, der als Geste des Einschreibens betrachtet werden kann. Zeichnung und Linie sind somit Ausdruck gedanklicher wie emotionaler Eingebungen und künstlerischer Visionen. Sie sind Äusserungen zwischen Andeutung und Konkretem. Manchmal sind Buchstaben und Textfragmente lesbar, oft jedoch nur rekonstruierbar - und meistens nicht einmal das ... Er überlässt uns der Abfolge von gedanklichen Verknüpfungen, die sich aus hoffnungsvollen Utopien und glanzvollen Träumen ebenso speisen wie aus der verhängnisvollen Absurdität der Hybris - es bleiben Erkenntnis und Wehmut.
Am auffälligsten unterscheiden sich Tilmann Zahns Papierarbeiten von aktuellen Papierschnitten dadurch, dass er das Papier reißt und nicht schneidet. Die exakt geschnittene Linie ist in den meisten zeitgenössischen Papierschnitten das Pendant zur gezeichneten Linie - was einer künstlerischen Technik entspricht, die Henri Matisse als „mit der Schere zeichnen“ beschrieben hat. Tilmann Zahns Intention hingegen ist eine andere. Er ist weniger an grafischen Aspekten von Papierarbeiten interessiert als vielmehr an einer sinnfälligen Transformation des Materials: Papier und gerissene Formen erscheinen wie Strukturen im Stadium des Verfalls, ihre haptische Anmutung ist die von rostigen metallenen Architekturen und Fundstücken. Verstärkt wird der Objektcharakter durch die bevorzugte Präsentation der Werke an Stahlnägeln und mit Abstand zur Ausstellungsfläche hängend.
Das Objekthafte der Werke erzeugt im Zusammenwirken mit ihrer intensiven Stofflichkeit aus Farbe und Form, Unebenheiten und Lineament eine räumliche Dimension, die Ort ist für Imaginationen über Vergangenes oder gar Verlorenes und gleichsam Zugang ermöglicht zu vage Erinnertem oder blossen Ahnungen. Und mit dem Nahblick auf die rauh strukturierte Oberfläche des Papiers die weich ausgerissenen Konturen ertastend und eingetaucht in das satte dunkle Braun der Ölfarbe dem dem unübersichtlichen Gefüge von Linien aus Graphit und Bleistift folgend, erliegen wir dem Charme der Traurigkeit.
Vergänglichkeit und Melancholie haben als die klassischen Themen in den Künsten ihren Reiz nie verloren. Aspekte des memento mori sind auch in den Arbeiten von Tilmann Zahn präsent, sie sind Sinnbilder für die in architektonischen Überbleibseln urbaner Strukturen innewohnenden Geister früheren Daseins. Doch entfernt von jeglicher Vanitas-Litanei bewirken seine Werke keine kontemplative Schwermut. Viel zu dynamisch sind sie in Form und Komposition, sie halten unsere Gedanken in Bewegung. Als „Hybridgerüst“ oder „Hybridschrott“ bezeichnet er jüngere Arbeiten und benennt damit einen Zustand des Dazwischen, der sich sowohl auf die Wirkung seiner Arbeiten bezieht - nicht mehr nur Papier und niemals wirklich Metall - als auch auf sein künstlerisches Konzept.
Die seinen Reminiszenzen und Andeutungen immanente Melancholie entspricht dem Bedürfnis des Künstlers nach Erkenntnis. Eindeutigkeit zu vermeiden ist sozusagen künstlerisches Prinzip, das größtmöglichen Freiraum bietet für Imagination und Assoziation. Überzeugend ist dieses Konzept vor allem deshalb, weil die berührende ästhetische Qualität der Arbeiten von Tilmann Zahn auch zu der Erkenntnis führt, zuversichtlich zu sein.
Paula von Sydow, 2014
Geboren 1966 in Osnabrück, aufgewachsen in Düsseldorf. Lebt seit 1990 in Basel.
Öffentliche Sammlungen
Kunstsammlung Hoffmann-la Roche, Basel, CH
Kunstsammlung der Arbeiterkammer Oberösterreich, Linz, A
Kunstsammlung der Stadt Wil, CH
Einzelausstellungen
2022 | Kunstverein Bad Nauheim Raum und Illusion (mit Georg Küttinger), Kunstverein Radolfzell e.V., Villa Bosch |
2019 | Galerie Maurer, Frankfurt/Main |
2018 | Kunstverein Damianstor, Bruchsal |
2017 | Galerie Q, Kulturforum Schorndorf |
2016 | Kunstkultur Königsfeld |
2015 | Galerie Ulrike Hrobsky, Wien, A |
2014 | Chelsea Galerie Laufen |
2013 | Galerie Wichtendahl, Berlin |
2009 | Galerie Roland Aphold, Basel, CH |
2008 | Galerie Wichtendahl, Berlin |
2007 | Galerie Roland Aphold, Basel, CH |
Gruppenausstellungen
2019 | Kunstverein Kontur im Kunstbezirk, Stuttgart |
2018 | Galerie Ulrike Hrobsky, Wien, A |
2017 | Neuer Kunstverein Aschaffenburg |
2016 | Städtische Galerie Villa Streccius, Landau |
2015 | Galerie Wichtendahl, Berlin |
2014 | Horst-Janssen-Museum, Oldenburg |
2013 | Koppelschleuse Meppen |
2012 | Kunstverein Marburg |
2008 | Galerie Lorch + Seidel contemporary, Berlin |